Aktive Sterbehilfe vs. Palliative Care

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Ich schliesse mich hier mal nach themenorientierter Fortsetzung der Diskusssion an!
 
Der Mensch hat verlernt zu leiden.

Elisabeth

Halte ich auch für wahrscheinlich. Viele Menschen wollen eine schnelle Gesundung und können sich nicht leicht mit langsamen Fortschritten, z.B. in einer Reha, zufrieden geben. Beim Sterben ist es ähnlich, gerade bei den Angehörigen. Ihr glaubt nicht, wie oft wir gefragt werden, wie lange es denn noch dauere.

Der Wunsch nach aktiver Sterbehilfe fällt für mich teilweise auch in diese Kategorie, gerade wenn ihn nur die Angehörigen aussprechen. Es ist nicht leicht, bei einem geliebten Menschen zu sitzen und der Meinung zu sein, man tue gar nichts für ihn. Ist, ironisch gesagt, doch viel leichter, wenn der es schnell hinter sich bringt, damit auch den Angehörigen "erlöst", und man sich noch nicht mal selbst die Finger schmutzig machen muss.
 
Wollen wir hier nun Aktive Sterbehilfe vs. Palliative Care diskutieren oder wollen wir uns in Details zur Palliativtherapie verlieren?
Yrt- kannst du bitte einen neuen Thread zu deinem Thema: Sinn oder Unsinn der palliativen Maßnahmen- aufmachen.

Elisabeth

Hm.. um das Ganze nochmal durchzukauen und dann die Diskussion wieder an dieser Stelle abbrechen zu lassen?
 
Falls Dich das beruhigen sollte: In so einem themenbezogenen Thread stehe ich Dir gern weiter Rede und Antwort.
 
Der Mensch hat verlernt zu leiden.
Elisabeth


...und wir leiden am Leiden

Aktive Sterbehilfe wäre keine einfache Lösung im Umgang mit dem Leiden, sondern die Abschaffung der Leidenden.

...und noch ein Zitat von Werner Burgheim, Qualifizierte Begleitung von Sterbenden und Trauernden, Forum-Verlag 2001:
"[...] werden solche hereinbrechenden Lebenssituationen nicht zu Lerngelegenheiten, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn plötzliche oder mehrmalige Misserfolge, Krankheit oder Verlust einer Liebesbeziehung als ein kaum zu ertragendes Ereignis und als Ungerechtigkeit und als Zumutung empfunden werden. [...] Ein leidfreies Leben wird es nicht geben. Leidensfähigkeit als Erziehungs- und Lernziel ist uns abhanden gekommen."

Palliative Care erkennt Grenzen an, Aktive Sterbehilfe geht über Grenzen und wird damit grenzenlos.
 
Also resultiert der Wunsch nach aktiver Sterbehilfe nicht aus den mangelnden palliativen Angeboten sondern aus dem Wunsch heraus: kein Leiden ertragen?

*grübel* Wie kann ich die "Leidensfähigkeit" eines Menschen erhöhen? Was bedeutet Leiden?

Ich will nochmal das Lebenskonzept in den Blickwinkel rücken:

Pflegebedürftigen geht es um Selbstbestimmung (Autonomie), nur als Mittel hierzu um Selbstpflegefähigkeit (Autarkie) Bedrohung der Autonomie durch chronische Schübe, durch totale Institutionen und durch PflegeExperten
Die Autonomie wird keineswegs nur durch chronische Krankheitsschübe bedroht. Es sind totale Institutionen und kommunikativ nicht hinreichend erreichbare Pflegeexperten, die vorhandene Autonomiegefahren noch steigern. Nicht alle so Bedrohten können sich in der »Bewegung Selbständig Leben« zurückziehen. Die Existenz solcher Bewegungen zeigt allerdings, wie weit die Gefährdung der Autonomie durch Pflegeexperten gefürchtet wird. Wären diese Pflegeexperten eine Profession, zeichneten sie sich durch
den professionstypischen Respekt vor der Autonomie der Lebenspraxis ihrer Klienten aus.Weil viele chronisch Pflegebedürftige wenig Chancen zu einer Selbstverteidigung ihrer autonomen Lebenspraxis haben, ist es Aufgabe der Pflegenden, auf sie zu hören und ihre kommunikativen Signale verstehen zu lernen (worum es in P1 geht).
http://www.medizin.uni-halle.de/pflegewissenschaft/media/HalBeitr/Halle-PfleGe-03-03.pdf S.7

Wenn jemand eine tiefgreifenden Einschränkung seiner Gesundheit erfährt ohne Aussicht auf Heilung- warum soll er den Verlust der Autonomie ertragen? Nicht mehr bestimmen können. Nicht mehr ernst genommen werden.

Selbst bei dem aktuellen Fall stand ja nicht der Schmerz im Vordergrund sondern die Angst vor dem Verlust jeglicher Autonomie.

Elisabeth
 
Den Tod als Medienereignis halte ich für moralisch ziemlich fragwürdig. Außerdem konnte der Pat. scheinbar noch sehr gut kommunizieren, war gut versorgt.

Bei vielen anderen Krankheitsbildern kann ich den Wunsch nach aktiver Sterbehilfe sehr gut verstehen - wenn etwa Lähmungen das Gefühl auslösen, im eigenen Körper eingesperrt zu sein, Kommunikation kaum noch möglich ist, wenn Schmerzen selbst mit hochdifferenzierter Schmerztherapie kaum noch in den Griff zu bekommen sind.

Bei neurologischen Krankheiten dauert das Leben in einem solchen fragwürdigen Zustand ja oft noch sehr lange. Diese Pat. sind dann gar kein Fall für die Palliativmedizin, sondern eben "chronisch krank".
Selten, dass ein Pflegeheim einen erträglichen Lebensstandard für solche, oft auch noch jungen Pat. schaffen kann. Für Angehörige eine kaum zu bewältigende Aufgabe.

Soll man diese Menschen also zum lebenslangem Leiden verdammen?
Andererseits haben wir natürlich nicht das Recht, über Leben oder Tod zu entscheiden.

Ich glaube jedoch, dass sehr wenige Menschen den Ausweg "assistierter Selbstmord" wählen würden, wenn man ihnen mehr Hilfe anbieten würde als sie derzeit bekommen, Bezugspersonen, die für die Psyche da sind, Pflegepersonen, die nicht auf die Uhr schauen müssen, um das Satt-und-Sauber-Programm zu schaffen, sondern außerdem gezielte Maßnahmen ergreifen könnten.
 
Zudem ist der assistierte Selbstmord ja auch in Deutschland nicht gesetzeswidrig. Dignitas verhält sich zwar moralisch fragwürdig, indem es seine eigenen Schutzrichtlinien wiederholt selbst unterläuft, aber die sind pfiffig genug, nicht gegen Gesetze zu verstoßen.

Wie schwer tun sich Politiker im Augenblick damit, Richtlinien für Patientenverfügungen zu entwerfen, die jeden Missbrauch ausschließen. Wieviel schwieriger wäre das bei der Legalisierung der aktiven Sterbehilfe?

Ich habe leider schon viele Patienten erlebt, die selbst keine Therapie mehr wollten, aber unter dem Druck von Angehörigen (und zuweilen auch Ärzten) sich dazu breitschlagen ließen. Zwar wird es meiner Vermutung nach weniger Menschen geben, die ihre Leute zu aktiver Sterbehilfe zu drängen versuchen, aber geben wird es sie. Die Zustände in den Niederlanden haben dies bewiesen.
 
Aber das widerspricht doch eigentlich jeglicher Logik: auf der einen Seite wird nach jedem Strohhalm gegriffen, der das Leben verlängert... auf der anderen Seite verlangt man den schnellen Tod.

Elisabeth
 
Das Aushalten der Widersprüchlichkeit ist die Herausforderung an die Begleitenden: Ganz deutlich wird das immer wieder, wenn es abends dunkel wird und der Patient eigentlich schlafen will, gleichzeitig Angst hat vor dem Einschlafen, auch wenn er geäussert hat, daß er am liebsten hinüberschlafen würde. Das kann dazu führen, dass der Patient sich die ganze Nacht wachhält und erst bei Beginn der Dämmerung einnickt.

Anderes Beispiel: Jemand hat starke Schmerzen, äussert dies auch, lehnt aber adäquate Schmerzmittel ab - mit dem Hinweis, dass er den Schmerz braucht, um seine Krankheit und sein Lebensende akzeptieren zu können. Trotzdem möchte er darüber "klagen" dürfen, menschliche Zuwendung ist die Therapie, die er braucht, und nicht die Aussage: "Wenn Sie dieses Mittel nicht nehmen, kann ich ihnen nicht helfen".

Das meinte ich mit Leidensfähigkeit lernen: Die Begleitenden sollten sich nicht vom Leiden abwenden, wenn ihre "Ratschläge" nicht angenommen werden.
 
Also gehört "Leidensfähigkeit" zum menschlichen Sein?

Elisabeth
 
Ja, in gewissem Rahmen ist Leidensfähigkeit menschlich (ist ja auch im Ausdruck Empathie enthalten), Helfenwollen wird durch Mitgefühl ausgelöst - ich nehme das Leiden des anderen wahr und leide ein Stück weit mit.

Wenn mein Leiden (unter dieser Wahrnehmung) aber größer ist als das Leiden des Betroffenen selbst, bin ich nicht mehr objektiv genug, um echte Hilfestellung geben zu können. Beispiel dafür sind die Patiententötungen durch Pflegepersonal oder auch Ärzte.

Das ist nun aber sehr philosophisch, da fühle ich mich nicht so wirklich kompetent (obwohl ich die Philosophie mag).
 
Ich bin mir nicht sicher, ob es die "Leidensfähigkeit" ist. Jammern können wir ja ganz gut. Möglicherweise ist es eher die Tabuisierung von Alter und Tod. In der Werbung laufen inzwischen zwar auch schon ein paar ältere Semester über die Bildschirme, aber die sind fit; sie wandern, sie toben mit den Enkelkindern herum, sie kaufen sich eigene Segeljachten, denn sie haben zum einen ihr Geld gewinnbringend angelegt und zum anderen die richtigen Medikamente und die perfekte Haftcreme. Will sich jemand selbst als alt oder krank sehen? Wohl kaum.

Am liebsten wäre der Mensch wahrscheinlich für immer jung, gesund und vital. Da das nicht geht, da wir alle sterblich sind, wählt man wenigstens einen "sauberen" Tod und "überspringt" die Zeit, in der es einem weniger gut geht und in der man weniger attraktiv ist.
 
Unbekanntes/ Ungewißheit löst Angst aus. Fehlt die Fähigkeit zur Regulation dieser Angst?

Elisabeth
 
Manchmal ist Davonzulaufen eben leichter, als die Angst auszuhalten.
 
In einem "Zeit"-Artikel wurde angesprochen, dass es bei alten Menschen vor allem die Einsamkeit ist, die den Todeswunsch auslöst. Die Menschen können am gesellschaftlichen Leben nicht mehr teilnehmen, werden einsam und dann depressiv.
So gesehen geht es Pat. in Behandlung sogar besser, weil sie zumindest ein bestimmtes Maß an Zuwendung erhalten.
Nicht die Angst vor dem Tod scheint nicht auszuhalten sein, sondern die Angst vor dem Leben in einem unerträglichen Zustand. - Verständlich, aber ein Armutszeugnis für die Gesellschaft.
Ich selbst würde wohl auch eher zu einem radikalen Schnitt tendieren, wenn alle meine Möglichkeiten, Leiden auszuhalten, versiegen würden. Wenn Kontakte abbrechen, die Sinne versagen, man nicht einmal mehr lesen könnte, etc. - da kann man ja direkt dankbar für eine Demenz sein!
( - Heute etwas schwarzmalerisch:cry: - )
 
Angst kennt jeder, aber haben wir nicht gerade aus solchen Situationen gelernt, wo wir uns dieser Angst gestellt haben (denke dabei an die Ausbildung)?
Auch ich habe Angst, von anderen abhängig zu sein. Aber ich habe viele Menschen kennengelernt, die souverän damit umgehen konnten, weil sie
die Zeit und das Umfeld bekommen hatten, um sich an die veränderten Umstände anzupassen. Das Umfeld - und damit in besonderem Maße die Pflege - hat doch die Aufgabe, Ressourcen zu ermitteln, bereitzustellen und zu fördern. Das ist, wie vorher schon erwähnt, natürlich mit mehr Aufwand und Kosten verbunden als die schnelle "Lösung".

Und nochmal zu den Vorstellungen und Phantasien:
Eine junge Frau mit AIDS, die nichts mehr willkürlich bewegen konnte ausser ihrem Kopf, nicht lesen, nicht fernsehen konnte, hatte sich in gesunden Tagen so einen Zustand auch nicht vorstellen können, dass man da noch was zu lachen hätte. Und wie sie lachen konnte! Vor allem lachte sie über die "Gesunden", die sie immer voller Mitleid betrachteten - denen sagte sie: "Es gibt Schlimmeres!"

Wenn der Weg der Leidvermeidung eingeschlagen wird, wo ist dann die Grenze dessen, was an Leid zumutbar ist?
Schon jetzt kommen kaum noch Kinder mit Trisomie 21 auf die Welt. Dabei wirken sie, wenn man sie kennenlernt, glücklich und überhaupt nicht leidend. Auch die jeweiligen Eltern empfinden sie eher als Bereicherung denn als Last. Es ist eher das Umfeld, das verständnislos reagiert, wie man sich in der heutigen Zeit darauf einlässt, wo man "sowas" doch verhindern kann.
Auch die Bestrebungen der Forschung, demnächst "Kinder nach Maß" zu "liefern", geht in die Richtung der Leidvermeidung. Was passiert dann mit den "optimierten" Kindern, wenn sie z.B. durch einen Unfall nicht mehr den Vorstellungen entsprechen?
Im Magazin "stern" war ein Bericht von einem Mann, der mit Chorea Huntington lebt - und sich seines Lebens freut, obwohl er genau weiss, was ihn erwartet. Er hat sich bewusst für Kinder entschieden, denen er das gleiche Schicksal zumutet, aus dem Grunde, weil er das Leben immer als lebenswert und als Geschenk betrachtet und nicht aus Angst vor möglichem Leid das mögliche Glück verhindern will.
 
In welcher Umgebung lässt sich Leid besser ertragen? Braucht es dazu wirklich das Hospiz?

Elisabeth
 
Das Hospiz ist genau wie das Altenpflegeheim ein Ergebnis unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Es übernimmt die Aufgaben, die die Familie aus verschiedenen Gründen nicht mehr übernehmen kann.

Hospize und Palliativstationen sind aufgrund der Konzentration von Spezialisten am Ort eine feine Sache. Du kannst aber auch sehr gute Sterbebegleitung zu Hause machen - wenn die Voraussetzungen stimmen. Im ambulanten Bereich brauchen wir eine viel bessere Betreuung mit Hausärzten und Pflegediensten, die sich mit Palliative Care auskennen - und das flächendeckend. Davon sind wir noch weit entfernt. Und auch der beste Pflegedienst kann in diesem Fall die Angehörigen nicht ersetzen.

Und manchmal können die Angehörigen einfach keine Sterbenden betreuen. Es geht auch seelisch über ihre Kraft.

Aber noch mal auf die Diskussion "Aktive und passive Sterbehilfe" zurückzukommen: Einer unserer Patienten hat heute geschildert, wie er sich seinen Tod wünsche: seinen Schnaps trinken, seine Zigarette rauchen und dann tot umfallen. Jetzt hadert er damit, dass das nicht so läuft, wie er will.
 
Ich kenne inzwischen schon einige Kolleginnen/Bekannte, die ihr krankes Elternteil mit einer Krebserkrankung zuhause betreut haben bis zum Schluß, mit Hilfe der Familie und des Hausarztes. Mutig zu sagen, keine Maximalbehandlung mehr, wir tragen das selbst - und es scheint wirklich für alle Beteiligten der bessere Weg gewesen zu sein. Auch die Angehörigen haben von den intensiven Momenten und dem gemeinsamen Gehen des letzten Stück Weges profitiert.
 
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