Wie schafft man es noch Mensch zu bleiben in der Pflege?

Cira

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Gesundheits- und Krankenpflegerin
Mich würde interessieren, wie ihr als Pflegekräfte und vorallem als Mensch damit umgeht, dass euch jeden Tag alte, kranke, hilfsbedürftige Menschen anvertraut sind und ihr ihnen weder pflegerisch noch menschlich gerecht werden könnt, egal wie sehr ihr euch auch zerreist in eurem Dienst.

Ich habe nach jedem Dienst ein schlechtes Gefühl. An manche Dinge habe ich mich schon gewöhnt, weil sie einfach alltäglich sind. Pflegerische Tätigkeiten werden schlecht oder kaum bis gar nicht richtig durchgeführt, weil es zeitlich/personell nicht machbar ist. Wenn man die Arbeit nicht schaffen kann, fällt halt immer etwas hinten runter und in der Regel sind das immer dieselben Dinge. Das empfinde ich mittlerweise schon als "normal", obwohl das eigentlich schrecklich ist.

Oft denke ich, wenn Menschen sich gesundheltlich bei uns verschlechtern oder noch halbwegs mobil zu uns kamen und bettlägerig das KH verlassen, dass wir Schuld daran sind bzw. man das hätte verhindern können, wenn man die Menschen besser gepflegt hätte.

Aber es gibt auch so viele Erlebnisse auf der Station, die mich gedanklich bis nach Hause verfolgen. Das sind meistens Dinge, wo es nicht mal direkt nur um Pflege geht, sondern um die Menschenwürde der Patienten.

Wie geht man damit um? Wie geht ihr damit um? Stumpft man irgendwann komplett ab und nimmt die Patienten gar nicht mehr als Menschen wahr? Ich möchte so nicht werden, aber wenn man selbst noch Mensch bleiben will, kann man guten Gewissens so auch nicht auf Dauer arbeiten.
 
Menschen sind unterschiedlich - und deshalb gehen auch unterschiedlich mit, die Person übersteigende Anforderungen um. Es macht IMHO wenig Sinn sich mit einer empfundenen Abgestumpftheit von Anderen selbst zu reflektieren bzw. sich daran abzuprüfen (im Sinne von Vergleichen). Reflektion gelingt eher, wenn ich mich mit meinem früheren Ich vergleiche und daraus Schlüsse ziehen. Das was du beschreibst würde ich mal als Belastungen im ungefähren Sinne von emotionalen Stress einordnen, wenn ich dich richtig verstanden habe.

Deine Resilienz ist hier ein Schlüssel. Hilfreich kann hier z.B. auch eine Recherche zum Stressmodell nach Lazarus sein. Weiter könnte es für dich hilfreich sein gezielte Kursangebote zum Aufbau deiner Resilienz zu suchen und zu besuchen - da gibt es auch zuweilen spezialisierte Angebote für den Kontext der Pflege. Die Möglichkeiten sind tatsächlich größer, als es auf den ersten Blick zu sein scheint. Ich hab erst jüngst in einer Fortbildung folgende Übersicht kennengelernt und als wirklich hilfreich wahrgenommen. Ich meine sie gibt eine gute Orientierung, wo man gezielt wie ansetzten kann, wenn man da an sich Arbeiten will bzw. spürt, dass hier Handlungsbedarf besteht.
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Von weiterer Bedeutung ist es hier eine lösungsorientierte Perspektive zu verfolgen. Häufig erlebe ich, dass Kolleg*innen eher eine problemorientierte Perspektive (mutmaßlich unbeabsichtigt) halten und somit immer intensiver um jene Probleme kreisen. Ich bin durchaus der Meinung, dass sich an unseren Umständen und Einflussfaktoren gewaltig und möglichst schnell etwas ändern muss (insb. strukturell) - trotzdem kommen wir in unserem Job nicht drum herum auch auf der individuellen Ebene Sicherungsmechanismen in unserer beruflichen Persönlichkeit zu integrieren. Und letzteres sollte m.M.n. eben ohne Charakteristik einer Abgestumpftheit, wie du schreibst, passieren. Ich verstehe unter deiner Nennung von "Abgestumpftheit" das Phänomen des "empathy fatigue" - dem Erschöpfen des Einfühlungsvermögens/dem Ermüden der Fähigkeit des Perspektivwechsels. Wie verlieren damit ein sehr wichtiges Werkzeug unserer täglichen und qualitativen Berufsausübung. Ich gebe dir recht, dass das kein Ziel einer lösungsorientierten Perspektive sein kann ;-) .

Kolleg*innen gehen damit sehr unterschiedlich um bzw. entwickeln individuelle Strategien um sich vor einem empathy fatigue zu schützen - und es gibt eben die, denen es nicht gelingt, sich davon wirksam zu schützen. Ich kenne Kolleg*innen die finden überwiegend in Sport/Bewegung einen Ausgleich zur den Erdrückenden Zuständen und Erlebnissen im Arbeitsalltag. Persönlich merke ich, dass ich mich allen drei Bereichen der oben dargestellten Stresskompetenzen bewege und damit gut hinkomme - insbesondere die Punkte "Grenzen setzen / sich selbst behaupten", "Anforderungen konstruktiv bewerten", "Annehmen der Realität", "Genießen im Alltag" & "Entspannen und Abschalten" helfen mir besonders gut. Sowas muss sich aber ggf. gezielt aneignen/anlernen/antrainieren.

Ganz ehrlich --> such dir zeitig Hilfe, welche dich im Aufbau von Resilienz anleitet/ein Stück begleitet und entzieh dich so dem Risiko eines Ausbrennens und dem empathy fatigue. Versuche wirksame Copingstrategien für konkrete Problemsituationen zu entwickeln --> auch das Ausfüllen von Gefährdungsanzeigen, Gewerkschaftsarbeit bzw. Teilnahme daran, Strukturverbesserungsvorschläge von der Basis aus machen/anstoßen usw. können hier wirksame Beiträge leisten (so zumindest mein persönliches Empfinden - und danach hast du ja auch ursprünglich gefragt ;-) )

Meine Schüler*innen bekommen in den, tatsächlich bewusst im Lehrplan vorgesehenen Themen zu diesem Phänomen unseres Berufes verschiedene, evidenzbasierte Vorschläge mit, wie sie selbst ihre Resilienz erhalten bzw. aufbauen können - wenn sie es denn selbst können (insbesondere im Sinne der Regenerativen Stresskompetenz). Nicht jeder Mensch scheint dazu unmittelbar in der Lage zu sein. Dann versuche ich die Sensibilität dafür zu schärfen, dass es echt in Ordnung ist, das ggf. auch erst mit externen Hilfe schaffen zu können. Wir haben alle Fahrlehrer*innen für den Erwerb unseres Führerscheines gebaucht - warum ist es dann so ein Ding, sich beim Erwerb von Fähigkeiten zum Erwerb und Aufbau von Resilienz einen Fachmann/eine Fachfrau zu suchen. ;-) Für Manche scheint das echt ein Tabu im Sinne einer Schwäche in der Persönlichkeit zu sein - dabei ist es, wenn überhaupt nur ein schnödes Lerndefizit... also nichts wofür man sich schämen muss/sollte. Des kann man alles lernen - vorausgesetzt man hat eben dieses mindset dazu. ;-)

Und weiter versuche ich bei meinen Schüler*innen stetig eine - ich nenn es mal - grund-kämpferische Natur in der beruflichen Persönlichkeit mit anzubahnen (da kommen dann die Punkte aus den anderen beiden Stresskompetenzbereichen vor). Nicht immer scheint es mir zu gelingen - aber ich meine ich werde besser und kann es den meisten von ihnen mit der notwendigen Bedeutung und Sinnhaftigkeit verknüpfen. ;-)

Viel Erfolg, Cira, ich hoffe ich konnte dir mit meinen Gedanken und meiner Perspektive dazu weiter helfen.
 
01.10.1976 erster Tag der Ausbildung zur Krankenschwester
01.10.2023 erster Tag meiner Rente

Das einzige was ich geschafft habe zu behalten: ich kann tatsächlich noch den Menschen sehen und erkennen, der da auf mich wartet. Das hilft mir.
Ich habe kein schlechtes Gewissen mehr nach der Schicht, ich habe mein Bestes gegeben. Ich mag auch noch immer die Menschen, die auf Arbeit Patienten heißen.

Aber ich habe Angst davor Patient zu werden.
Ich habe aufgehört mir für Dinge ein schlechtes Gewissen zu machen, für die ich nichts kann, die ich auch nicht ändern kann.
Ich habe mich in Gewerkschaft engagiert und mich fortgebildet, habe versucht meine Kollegen auch dahin zu bringen, habe versucht die Schüler zu motivieren.
Mehr geht nicht. Ich ziehe mir die Misere nicht mehr an. Sobald ich meine Schicht beendet habe, habe ich Freizeit und schalte ab.
War nicht leicht, aber ich habe es geschaft.

Ob dir das hilft?

Allerdings habe ich, in einer für mich privat sehr schlechten Zeit, psychologische Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Was ich dort lernte hift mir natürlich auch noch heute.
 
Danke Niesreiz
manches von dem was Du erklärst kenne ich schon aus der Management-Lehre, aber so aus der Informationsbeschaffung vor meiner Ausbildung hat sich diese Frage für mich auch schon ergeben. Ich weiß nicht, inwieweit das Raum finden wird in der Ausbildung, aber ich bin Dir dankbar, dass Du hier einen so guten Einstieg in die Beantwortung dieser Frage erläuterst.
 

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