Erster Eindruck der Generalistik

Atmarama

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BaWü
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Azubi
Akt. Einsatzbereich
Hämatologie/ Onkologie
Ich poste das mal hier, weil es mir an anderer Stelle nicht wirklich zu passen scheint.

An der Generalistik scheiden sich die Geister. Für manche stellt sie den Untergang des pflegerischen Abendlandes dar, für andere das aufgehende Licht einer neuen Zeit, und für viele, vielleicht die meisten, irgendetwas dazwischen.

Ich gewinne allerdings aus der Diskussion, meinen ersten Erfahrungen aus der Ausbildung und meiner Lebenserfahrung im Gesamten einen gänzlich anderen Eindruck, nämlich den, dass es in den Debatten darüber viel eher um pflegerisches Selbstverständnis als um konkrete Ausbildungsinhalte oder Qualitäten geht.

Was die Ausbildung selbst betrifft habe ich den deutlichen Eindruck, dass da sehr viel mehr eigenständiges Lernen und selbstständiges Erarbeiten und Vertiefen gefordert ist, als das früher der Fall war.

Ob das gut oder schlecht ist, läuft auf die Frage hinaus, ob und inwieweit der Einzelne willens und fähig ist, dieser Forderung nachzukommen.

In jedem Fall aber ist es zeitgemäß.
Wissen entwickelt sich heute sehr viel schneller als früher, allerdings ist es auch durch das Internet sehr viel schneller verfügbar.

Ich erlebe Lehrer, respektive Pflegepädagogen mit jahrelanger praktischer Berufserfahrung und einem Master, die mit sehr viel Enthusiasmus und profunden Kenntnissen unterrichten und solche, die mit Nachfragen nicht wirklich gut umgehen können, weil sie es schlichtweg nicht wissen.

Und ich erlebe, was Wunder, Schüler die sehr interessiert an fachlichen Fragen sind, und solche, die den halben Tag lang nur whatsappen.

Ich erlebe gemessen am Bevölkerungsschnitt eine überdurchschnittliche Diversität, und ich begrüße das sehr. Fachlich macht das alles ein wenig komplizierter, in der Praxis wahrscheinlich auch, aber ich bin generell ein Freund von Diversität.

Tja, und das Fazit?

Die Generalistik und die Pflegewissenschaft werden die Pflege auf ein neues und höheres Niveau heben.
Und das wird vielen erfahrenen und gestandenen Pflegefachkräften nicht in den Kram passen, weil es an ihrem Selbstverständnis kratzt.
Und ich wette, dass es den wirklich alten Schwestern seinerzeit nicht anders ging.

Pflege sollte nicht zu medizinisch sein, nicht wahr? Es hat auch Vorteile, dass sich die medizinische Entwicklung nicht an der pflegerischen orientiert.

Aber wie auch immer: die Generalisten werden sich Herausforderungen stellen müssen, die teils von außen, insbesondere der Demografie und der Wissenschaft vorgegeben werden, wie auch solchen, an denen vorangegangene Generationen gescheitert sind (heroisch aufopfernd kläglich).

Und natürlich wird sich auch das Selbstverständnis ändern, und das wird Reibung geben. Und, weil das irgendwie dazu gehört: es wird Gemeckere und Gejammer geben, Top-Leute und solche, die in der Pflege nur irgendeinen Job sehen, im Zweifelsfall einen, der zu schlecht bezahlt ist.

Abgesehen davon, und quasi by the way:
ich begrüße es sehr, dass unsere Trägerhäuser darauf bestehen, dass wir die ersten 6 Monate Blutdruckwerte ausschliesslich durch mechanische Messung auskultieren und palpatieren sollen. Ich finde das gut, weil es Raum schafft für Kontakt zum Patienten und eine gute Möglichkeit darstellt einen umfassenderen Eindruck des Allgemeinzustandes zu gewinnen. In 5 Jahren mag das anders sein, wenn Vollautomaten die Werte via Bluetooth direkt in eine KI-gestützte Dokumentation eintragen, die dem Arzt Auffälligkeiten direkt aufs Smartphone schickt.

Da sind dann gestandene und erfahrene Pflegefachkräfte, die das Blutdruckmessen als lästig empfinden vielleicht genauso glücklich wie Generalisten, denen es zu blöd ist Korotkow-Geräuschen zu lauschen, wenn's auch automatisch geht.

Ach... vielleicht hat die neue Generation der Generalisten mit den älteren Generationen von Krankenschwestern und GuK-Pflegern sehr viel mehr gemeinsam, als das gegenseitige Beharken vermuten lässt?

Und vielleicht sind sich beide Generationen auch einig darin, dass die Generationen davor von Pflege mal wirklich keine Ahnung hatten?

Und falls dem so ist frage ich mich:

wie haben die das nur geschafft?

Meine eigene Großmutter hat nie etwas anderes gemacht als Pflege. Sie hat an der Ostfront Tätigkeiten übernommen, die eindeutig und ausschließlich Ärzten vorbehalten war, hat nach dem Krieg Medikamente an die Charité geschmuggelt und war zuletzt in der ambulanten Pflege tätig, als es ambulante Pflege noch gar nicht gab.

Lebte sie noch und wäre in der Lage dazu, vermutlich würde sie den Kopf schütteln über alle die nach 45 ausgebildet wurden.

Examen und Geräte bedienen können, aber noch nicht mal in der Lage selbstständig eine Amputation vorzunehmen. Meinung haben und Fachwissen, aber sich zieren nachts um halb drei bei einer Hausgeburt zu helfen, weil keine Hebamme erreichbar ist.

O tempora, o mores!
 

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