Aus aktuellem Anlass:
40 Prozent weniger Fixierungen in NRW
Die Aktion, die diesen Erfolg gebracht hat, ist eine tolle Sache. Sie zeigt aber auch, was uns fehlt.
Welche Pflegekraft stand nicht schon mal auf dem Schlauch und wusste nicht, wie sie die Sicherheit eines Patienten gewährleisten soll, der unruhig ist und womöglich an Infusionsschläuchen oder Kathetern hängt. Besonders nachts, wenn die Pflegekraft allein ist, kann es extrem stressig werden. Wenn der oder gar die Patienten aufstehen und das Blut in den Infusionsschlauch zurückläuft, wenn der geblockte Katheter wie ein Gummiband zwischen dem am Bett hängenden Urinbeutel und dem Harnausgang des Patienten spannt, und man nicht weiß, wie lange das so schon geht, weil man in einem anderen Zimmer fast eine ganze Stunde mit anderen dringenden Problemen zu kämpfen hatte. Was soll man in einer solchen Situation machen? Wie oft löst man dieses Problem mit Fixierung, weil es nicht möglich ist, kurzfristig mehr Personal einzusetzen, sofern diese Option überhaupt existiert?
Ein gutes Gefühl hat man nicht dabei, wenn Patienten oder Pflegebedürftige oder Bewohner gefesselt werden "zu ihrem Schutz". Wenn man zudem auch noch weiß, dass man mit ein bisschen mehr Zeit die verwirrte Person ganz gut führen könnte, macht diese Art der Behandlung den Pflegebedürftigen nicht mehr zum Subjekt, um den wir uns kümmern sollen und wollen, sondern zum Objekt, weil die Fixierung nicht mehr primär seinem Wohl dient, sondern der unzureichenden Überbrückung mangelnder personeller Besetzung dient oder anders ausgedrückt den Zweck verfolgt, die Versorgung des Bedürftigen so auszustatten, dass es am Ende rentabel bleibt. Die Rentabilität hat mehr Gewicht, als Menschenrechte. Das ist verfassungswidrig, denn Menschenwürde bedeutet, dass jeder Mensch als Subjekt zu würdigen ist und nicht Objekt geringerer Interessen sein darf.
Das Dilemma bleibt an den Pflegenden hängen.
Solange es noch mal gut gegangen ist, was einerseits bedeuten kann, dass diesmal dem Pflegebedürftigen kein bleibender Schaden entstanden ist, was aber andererseits auch einfach nur bedeuten kann, dass es niemand gemerkt hat oder keine Schadenersatz- oder Schmerzensgeldzahlung fällig wird. Solange es also für die Pflegeeinrichtung keinen Schaden bringt, besteht aus Sicht der Geschäftsführung kein Anlass, etwas zu verändern. Zumal eine negative Bilanz schlicht die Existenz der Einrichtung bedroht, was wiederum wohl eher in der Reduzierung von Lohn, Zulagen und Weihnachtsgeld münden würde, bevor Konkurs angemeldet wird. Die Konsequenz, dass die Kostenträger (Pflegekassen, Krankenkassen, Sozialämter) die notwendigen Kosten decken müssen, wird nicht daraus gezogen, denn die Kostenträger verweisen einfach auf die Preise der anderen Einrichtungen, die es offenbar billiger können.
Wie sollen sich die Pflegenden aus diesem Geflecht von "Sachzwängen" und "Alternativlosigkeiten" befreien. Auch die Gewerkschaften können keinen Druck auf die Pflegeversicherung, die Sozialämter oder die Krankenkassen machen, denn die Tarife werden ausschließlich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmer/Gewerkschaften verhandelt. Wenn ein bestreiktes Haus oder Pflegeheim die Löhne erhöhen würde, würde das die Kostenträger nicht jucken, solange es z. B. private Billiganbieter, wie den bpa gibt, die es günstiger machen.
Wie soll es also gehen, dass wir Pflegenden, die das Leid der Pflegebedürftigen hautnah miterleben, nicht frustriert werden, innerlich kündigen oder abstumpfen?
Ohne eine Interessenvertretung, die andere Möglichkeiten hat, auf die Rahmenbedingungen Einfluss zu nehmen, wird sich an diesem Dilemma nichts ändern, selbst dann nicht, wenn unsere Berufsverbände und Gewerkschaften nicht nur 10% unserer Berufsgruppe als Mitglieder hätte, sondern 50%. Ihre rechtlichen Möglichkeiten blieben in den wirtschaftlichen Sachzwängen hängen.
Deshalb brauchen wir zusätzlich auch Einfluss auf Qualitätsstandards und rechtlich legitimierten Einfluss auf die Gesetzgeber. Eine Pflegekammer kann Standards definieren, die quasi Gesetzesstatus haben. Wenn es einen Standard gäbe, der Pflegenden nur erlaubt, organisationsbedingte Fixierungen vorzunehmen, wenn sie einen kurzzeitigen (max. 8 Stunden) und sich nicht wiederholgenden Personalnotstand im Interesse der Pflegebedürftigen überbrücken, dann müsste dieser Standard auch durch die Finanzierung seitens der Kostenträger gesichert werden. Die Versicherten und auch die vom Sozialamt finanzierten Pflegebedürftigen könnten dies dann einklagen ebenso wie die Pflegeheime, die diesen Standard nicht unterlaufen dürften.
Dass es mit der Herausgabe des Standards allein noch nicht getan wäre, ist wohl klar. Die Durchsetzung des Standards müsste dann auch erst noch erkämpft werden. Aber als Berufsstand haben wir mit der Pflegekammer die Legitimation, aus unserer professionellen Sicht zu bestimmen, was richtig und notwendig ist. Und daran müssten sich dann nicht nur die Anbieter von Pflege, sondern auch die Kostenträger halten.
Ganz nebenbei würde es uns auch helfen, wenn das Thema Fixierung für alle Pflegenden einfach mal verbindlich geregelt werden würde. Dieses rumeiern, was denn nun erlaubt ist und was nicht, würde eine Pflegekammer für ihre Mitglieder mit Sicherheit klären.