Buchtipp: Sterben Sie bloß nicht im Sommer...

Berthild

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Bad Wildungen
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Krankenschwester
Akt. Einsatzbereich
außerklinische Intensivpflege
Hallo zusammen,

mit diesem etwas verblüffenden bis abschreckenden Titel kam gerade ein Buch von Constanze Kleis (u.a. Coautorin von Susanne Fröhlich) heraus. Ich habe zufällig auf hr2 ein Interview mit der Verfasserin über dieses Opus mitbekommen und mir das Buch umgehend gekauft und bin schon auf Seite 143 von 216. Sie befasst sich darin mit den Zu - und Umständen in deutschen Krankenhäusern anlässlich einer Krebserkrankung der eigenen Mutter im mittelhessischen Raum, die sie engmaschig begleitet hat.

Dumont Buchverlag :: Sterben Sie bloß nicht im Sommer ( Constanze Kleis )

Die gute Botschaft: das Buch ist sehr schmissig geschrieben und ausnehmend gut recherchiert.
Die schlechte Botschaft: ein Großteil der Erfahrungen muss ich leider bestätigen.

Wer`s mag - ich mochte,
Gruß
Berthild
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Mal sehen.... ich hab's grad auch bestellt und lass mich überraschen...
 
Habe das Buch gelesen und stehe dem eher kritisch gegenüber.
Die Autorin watscht so ziemlich alle Berufsgruppen ab, die im Gesundheitswesen tätig sind, (manches relativiert sie allerdings jeweils ein paar Seiten später). Das ist für alle die, die sich der täglichen Herausforderung (noch) stellen (müssen), ziemlich demotivierend. Eine Antwort, wie das Dilemma zu lösen wäre, hat sie auch nicht, außer dem Tip, Patienten und Angehörige sollen sich am besten wie "Rumpelstilzchen" aufführen, um ihre Anliegen durchzusetzen - was zu Lasten der "stillen" Patienten gehen und noch mehr Personal aus dem Beruf treiben würde...

Interessant dabei ist die Tatsache, dass auch Frau Kleis sich erst aus persönlicher Betroffenheit zu Wort meldet. Dabei hat die Entwicklung der Gesundheitsfürsorge zum Gesundheitsmarkt mit ihren negativen Auswirkungen schon vor langer Zeit begonnen (und wurde da von vielen bejubelt, Stichwort: Wettbewerb).
 
Hallo Calypso,
ich kann Deine Kritik nachvollziehen. Meiner Erfahrung nach ist jedoch jede Darstellung vom eigenen Standpunkt und der sich daraus ergebenden Perspektive abhängig. Was Frau Kleis schildert, muss ich aber leider aus eigenen Erfahrungen - sowohl aus meiner Berufserfahrung als auch als Angehörige eines Herzkindes und einer 87 jährigen Mutter - in vielen Punkten bestätigen. Was nicht heißt, dass ich meine Patienten einen gesamten Dienst über in ihren Exkrementen liegen lasse. Was jedoch heißt, dass ich den unaufhaltsam steigenden Druck auf mich und alle Kollegen als größte Arbeitsbehinderung mit fatalen und manchmal unglaublichen Auswirkungen nicht aus der Welt reden kann. Ich empfinde das Buch nicht als platte verbale Rundumohrfeige, sondern als Erfahrungsbericht, den ich als solchen gar nicht zu bewerten habe. Was ich wiederum richtig gut finde, sind ihre Recherchen und das Interview mit dem ganzheitlich denkenden Arzt. Da ich das Buch nach der Lektüre verliehen und mir dummerweise keine Notizen gemacht habe, kann ich jetzt leider keinen konkreten Hinweis geben.

Als nächstes werde ich von Renate Moser "Es hat sich ausgeschwestert" lesen und bin gespannt darauf :-)

Es hat sich"ausgeschwestert"... Der Pflegeberuf im Umbruch: Ein Arbeitsbuch ... - Renate Moser - Google Books

Herzliche Grüße
Berthild
 
Was im Buch deutlich wird, ist der verständliche Wunsch nach umfassender Information seitens der Angehörigen, der aber in der Realität mit dem Gebot der Schweigepflicht kollidiert. Da wäre ein Tip in die Richtung sinnvoll gewesen, wie jeder Einzelne schon im Vorfeld entsprechende Verfügungen treffen kann.

Stattdessen wurde berichtet, wie Pflegepersonal mit "Einzahlungen in die Kaffeekasse" gütlich gestimmt werden sollte, oder dass Kritik "vorsichtshalber" nicht oder nur dezent geäußert wurde, aus Angst, dass das Personal sonst seinen Unmut am jeweiligen Patienten auslassen könnte.
Von solchen widerlichen Vermutungen habe ich schon gehört, aber es auch noch zu lesen, wie unser Berufsstand da eingeschätzt wird, empfand ich als beleidigend.
 
Ich kenne beide Seiten der medaille. ich arbeite (sehr) viele jahre im beruf und habe aber auch nach einem unfall die andere seite erlebt. Und da sah so manches ganz anders aus, als wenn man es durch die brille des arbeitsalltags sieht. es ist ja nun nicht so, als würden sich in unserem beruf nur göttliche wesen tummeln. auch bei uns gibt es das ganze spektrum des menschseins. es gibt sensible und hilfsbereite, es gibt kluge und unglaubliche trampel, es gibt professionelle und eiskalte... also einfach alles...
 
Der verständliche Wunsch der Angehörigen nach umfassender Information hat nicht nur den Aspekt, dass aus der Schweigepflicht heraus nicht jedem Angehörigen Auskunft gewährt werden darf. Er hat auch den Aspekt, dass nicht jeder Arzt sich die Zeit nimmt (ob er sie möglicherweise haben könnte, kann ich nicht für alle Ärzte beurteilen, auch wenn ich den Anspruch hätte, dass er sie sich nimmt ...) und dass es kommunikationsunfähige oder auch - willige Ärzte gibt. Wir haben zum Schutz der Patientendaten folgendes System: der Patient und/oder der Betreuer/Angehörigen geben uns ein Codewort, das bei telefonischen Anfragen (wenn also die Person nicht zweifelsfrei identifiziert werden kann) Bedingung für Auskünfte ist. Damit haben die Angehörigen bzw. der Betreuer es selbst in der Hand, wem sie das Codewort weitergeben, weil sie ihm vertrauen. Das halte ich für eine ziemlich gute Regelung. Welche Informationen und Gespräche man dann bekommt, gleich ob von ärztlicher oder pflegerischer Seite aus, hängt meiner Erfahrung sehr häufig ganz unmittelbar von einzig den Menschen ab, die man gerade antrifft und damit sind wir bei dem, was Squaw benennt: es gibt in jeder Berufsgruppe alles, von sozialen/kommunikativen u/o fachlichen Blindgängern bis zu engagierten Perfektionisten. Und wer kennt nicht die nicht immer hochprofessionellen Aussagen der Kollegen über die Angehörigen, gerade wenn sie sich ihrerseits engagieren.

Mir fällt da noch ein anderes Buch ein, welches dazu deutliche Aussagen aus unfreiwillig reicher Erfahrung bringt:

Mundtot!?
Wie ich lernte, meine Stimme zu erheben - eine sterbenskranke junge Frau erzählt
von
Maria Langstroff

http://www.maria-langstroff.de/

Ich zumindest erlebe es mehrheitlich durchgehend so, dass - ganz gleich ob Pflegeprofis oder freie Wildbahn - akzeptiert wird, wer funktioniert. Wirklich dafür wertgeschätzt oder gar belohnt wird er nicht ebenso durchgängig. Die Bedürfnisse und Ansprüche jedoch, die wirklich kranke und hilfsbedürftige Mitmenschen haben, kann das derzeitige Gesundheitssystem gar nicht mehr abdecken, weil in diesem System nicht der Mensch an sich, sondern der Profit an ihm im Mittelpunkt des Interesses steht und damit wären wir wieder mitten drin ...

Gruß
Berthild
 
Von solchen widerlichen Vermutungen habe ich schon gehört, aber es auch noch zu lesen, wie unser Berufsstand da eingeschätzt wird, empfand ich als beleidigend.

Und jetzt sag nicht, dass dir das in deinem Arbeitsleben noch nie begegnet ist.:gruebel:
Mir ging es selbst schon so: Solange der Angehörige im KH ist sagst du nichts, (oder wirklich nur im Notfall) weil er es unter Umständen spüren wird, und hinterher ist man so froh dem ganzen entronnen zu sein, dass man dafür keine Energie mehr aufwenden möchte.
Wie squaw geschrieben hat: es "menschelt" überall, und es gibt in ein und derselben Klinik ein breites Spektrum wie ein Standard umgesetzt wird oder wie eine Grundpflege durchgeführt werden kann...
Und nicht umsonst ist meines Wissens das führen einer Kaffekasse oder wie sie immer tituliert wird in den meisten Häusern nicht erwünscht (ja, und auch wir haben eine)
 
WAAAS habt Ihr? eine Kaffeekasse? Die ist doch sowas von verboten...;-)
Die Idee von Berthild finde ich sehr gut: das Codewort. Da kann mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden ,daß keiner Auskünfte bekommt, der das nicht soll.
Was die Unfähigkeit mancher Ärzte anbetrifft, mit Patienten oder Angehörigen zu kommunizieren: Es ist nicht immer die Zeit das Problem, sondern häufig auch die mangelnden kommunikativen Fähigkeiten und manchmal schlicht und ergreifend auch die Angst vor einem unangenehmen oder hochemotionalen Gespräch. ich denke, in dieser Hinsicht müßte bereits während des Studiums viel mehr getan werden.
Worauf es in Krisensituationen immer ankommt, sind die mitmenschlichen Gesten. Professionalität hin oder her: wenn mich jemand mal umarmt, kann (muß nicht!) das wirksamer sein als ein fachlicher Vortrag, daß doch alles nicht so schlimm ist, weil...
 
Zum Thema Sterben in Deutschland kann man auch ein Fachbuch empfehlen:
z. B. aktuell: Borasio: Über das Sterben
Meiner Ansicht nach eine zutreffende Bestandsaufnahme.
Erfahrungen mache ich selbst genug. Wer bei einem Personalschlüssel von 1/50 im Nachtdienst von palliativ care und Sterbebegleitung schwadroniert ist für jedes politischen Amt in diesem Land geeignet. Wir verarschen uns doch regelmäßig selbst gleich mit, wenn wir auf irgendwelche Zertifikate, Leitbilder oder MDK-Noten auch noch stolz sind.
 
Hallo thorstein,
schön, dass Du auf einen anderen Aspekt in dem Buch eingehst ;-)
Borasio hörte ich letztens im hr, das Buch interessiert mich auch, allerdings hab` ich schon eine lange Leseliste und das Buch von Renate Moser (Es hat sich ausgeschwestert) ist leider nur noch antiquarisch zu haben. Wer mag, kann sich das Interview mit Borasio jederzeit hier anhören:

hr Suche | hr-online.de

Ja, es ist höchst strapaziös, zwischen den Ansprüchen von innen und außen zu existieren und zu arbeiten. Ich lass` mir aber die Freude an meinem Beruf nicht vom System entwenden. Dass der ganze Zerti - Zirkus ein Potemkin`sches Dorf ist, liegt auf der Hand. Es liegt aber auch mit an uns allen, an jedem Einzelnen, diese Lügerei nicht weiter zu stützen, was allerdings oft viel Mut kostet. Ich wünsch` ihn Dir,
lass Dich nicht ärgern, es gibt auch sonst genug zu tun und wir sind gut und wichtig, ja geradezu unverzichtbar und unbezahlbar!

Herzlich
Berthild
 
Dass "Kaffeekassen" (und schwarze Schafe) existieren ist mir nicht neu. Mir gefällt nur die Pauschalisierung nicht.
Auch von meinen Angehörigen waren schon einige, z. T. mehrfach, in stationärer Behandlung, gerade erst wieder vor 6 Wochen. Noch nie habe ich da aber etwas vor der Entlassung "eingezahlt" - höchstens danach ein Dankeschön hinterlassen.

@Berthild, der Tip mit dem Code-Wort ist klasse!
 

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