II. Gegenwärtiges rechtliches Verständnis des Organisationsverschuldens
Das Organisationsverschulden bildet eine zentrale Kategorie des modernen Zurechnungs- und Haftungsrechts. Gerade im klinischen Alltag gewinnen Organisationspflichten immer mehr an Gewicht. Je größer die Zahl der an Diagnose und Therapie beteiligten Ärzte, Techniker und Hilfskräfte, je komplizierter und gefährlicher die apparativen und medikamentösen Mittel, je komplexer das arbeitsteilige medizinische Geschehen in einem großen Betrieb und je größer der ökonomische Erfolgsdruck, desto mehr Umsicht und Einsatz erfordern die Planung, die Koordination und die Kontrolle der klinischen Abläufe.
1. Gesetzliche Anknüpfungspunkte des Organisationsverschuldens
Auswahl-, Überwachungs- und Anleitungspflichten bilden zusammen mit der Pflicht zur Ausstattung des ärztlichen und pflegerischen Personals mit adäquaten technischen Hilfsmitteln einen umfangreichen Pflichtenkatalog des Krankenhausträgers und Praxisinhabers. Dieser umfasst auch ausreichende personelle und infrastrukturelle Ressourcen(z.B. IT- Ausstattung und Festlegung von Handlungsanleitungen).
Krankenhäuser oder in der Form der juristischen Person betriebene Arztpraxen sind für den Schaden verantwortlich, den ein leitender Mitarbeiter (Chefarzt, Oberarzt) einem Patienten zufügt. Primär verantwortlich ist daher der Träger der jeweiligen medizinischen Einrichtung. Eine Verantwortung der leitenden Mitarbeiter im Übrigen kommt in Betracht, wenn der Träger nachweisen kann, dass er die ihm obliegenden Organisationspflichten wahrgenommen hat, sog. Entlastungsbeweis i. S. v. § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB. Es genügt für eine solche Haftungsfreistellung allerdings nicht, dass der Träger den Nachweis sorgfältiger Auswahl und Überwachung des von ihm eingesetzten, für den fraglichen Bereich verantwortlichen höheren Angestellten führt. Vielmehr trifft ihn darüber hinaus die Pflicht, den gesamten Ablauf der Betriebsvorgänge und die Tätigkeit des Personals durch geeignete organisatorische Vorkehrungen so einzurichten und zu überwachen, dass Dritte nicht geschädigt werden.
2. Prozessuale Anknüpfungspunkte
Die Rechtsprechung geht bereits dann von einem pflichtwidrigen Verhalten des Krankenhauspersonals aus, wenn feststeht, dass der Patient „im Organisationsbereich des Krankenhauses“ zu Schaden gekommen ist (z.B. durch Transport, unsterile Infusionsflüssigkeit oder defekte medizinische Apparaturen). Wie im Produkthaftungsrecht wird von einem objektiven Mangel oder verkehrswidrigen Zustand auf ein pflichtwidriges Verhalten geschlossen.
3. Organisationspflichten in der Rechtsprechung
Folgende Kardinalpflichten lassen sich der Rechtsprechung entnehmen:
(1) Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten im Krankenhaus müssen durch Einsatzpläne und Vertreterregelungen deutlich abgegrenzt und insbesondere Sonntags-, Nacht- und Bereitschaftsdienste gesichert sein. Auch für die Patientenaufklärung und die ärztliche Erstversorgung von Unfallopfern bedarf es besonderer Anweisungen.
(2) Die ärztlichen und die nicht-ärztlichen Mitarbeiter müssen sorgfältig ausgewählt, angelernt und überwachtwerden. In jeder Behandlungsphase muss ein qualifizierter Arzt bereit stehen, um die erforderlichen Maßnahmen durchzuführen, zu delegieren und zu überwachen.
(3) Das Krankenhaus muss die ärztlichen und pflegerischen Standards in personeller, fachlicher und apparativer Hinsicht gewährleisten.
(4) Die Sicherheit der Patienten muss gewährleistet sein. Besonderen Anfälligkeiten von Kindern oder von verletzungs- oder suizidgefährdeten Personen ist Rechnung zu tragen. Darüber hinaus müssen die hygienischen Verhältnisse und die Funktionsfähigkeit aller medizinischen Geräte und Apparate sichergestellt sein.